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Kommentar Standpunkt online: Hartz IV muss weg! Oder doch nicht?

DIE LINKE. Duisburg; Jürgen Aust

Kritische Anmerkungen zum Gesetzentwurf „Bürgergeld“

 

von Jürgen Aust

 

I.

Der Berg hat gekreist und eine Maus geboren: die Rede ist von einem neuen „Bürgergeld“, welches nach offizieller Propaganda das Hartz IV-System „überwinden“ soll. Die Bundesregierung in Gestalt ihres Ministers für Arbeit und Soziales, Hubertus Heil, hat nunmehr dieses seit Jahren diskutierte „Reform“-Projekt in Form eines Referenten-Entwurfs der Öffentlichkeit vorgestellt. Um es vorweg zu nehmen: es ist bis auf einige kosmetische Korrekturen nichts anderes als alter Wein in neuen Schläuchen. Aber da die bürgerlichen bzw. neoliberalen Medien sich nahezu nur noch als Presseagentur der Bundesregierung verstehen, werden sie auch dieses „Reform“ vorhaben uns gewissermaßen als Abschied bzw. Überwindung von Hartz IV und als den seit langer Zeit angekündigten sozialpolitischen Durchbruch präsentieren. Die als neue Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit ins Amt gehobene Andrea Nahles, die jahrelang die Schröder’sche Agenda-Politik ergebenst mitvollzogen hat, wird die dazu die notwendige Begleitmusik spielen.

Minister Hubertus Heil, das ist für die Bewertung seines Vorhabens nicht unbedeutend, war seit vielen Jahren ein getreuer Vasall der SPD-Führung unter Gerhard Schröder und hat den durch die „Hartz-Reformen“ eingeleiteten Sozialabbau ergebenst mitgetragen. Aufgrund seiner Vasallentreue wurde er noch während der Schröder-Ära 2005 zum Generalsekretär der SPD ernannt.

Hier zunächst der Referentenentwurf (Stand 09.08.2022):

https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Gesetze/Referentenentwuerfe/ref-buergergeld.pdf?__blob=publicationFile&v=1

 

Zur Vervollständigung hier die „Eckpunkte“ von Harald Thomé, die auf der Grundlage der zuvor vom BMAS veröffentlichten „Wesentliche Regelungen des Bürgergeld-Gesetzes“ verfasst wurden:

https://tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/archiv/eckpunkte-buergergeldreform.html

 

Der Entwurf „glänzt“ durch eine Fülle von Leerformeln: es ist viel von Vertrauen, Augenhöhe oder Kooperation die Rede, und auch der Begriff „Respekt“, der im Bundeswahlkampf von der SPD als tragendes Wahlkampfmotto präsentiert wurde, wird unter dem Label „Mehr Sicherheit und mehr Respekt für Lebensleistung“ gewissermaßen als Wohlfühlprogramm angeboten. Jedoch soll an dem eigentlichen Abbau des Sozialsystems, der mit der Agenda-„Reform“ verbunden und beabsichtigt war, grundsätzlich nichts geändert werden. Es bleibt das Repressionssystem in Gestalt der Sanktionen (neu: „Leistungsminderung“), es bleibt das Verarmungsprogramm, was durch eine angekündigte Erhöhung des Regelsatzes um ca. 50 € auch nicht ansatzweise überwunden wird (und auch nicht werden soll), und es bleibt insbesondere das mit Hartz IV in die Arbeitsmarktpolitik eingeführte Zwei-Klassen-System in Gestalt des SGB III (Versicherungssystem) und des SGB II (Fürsorgesystem).

Der DGB hatte bereits auf die zuvor vom BMAS veröffentlichten „Eckpunkten“ in gewohnter Weise reagiert: ähnlich wie der DGB-Bundesvorstand 2003 auf den Bericht der Hartz-Kommission („das ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber ….“) reagierte, so positioniert sich aktuell auch der Leiter des Referats „Hartz IV“ beim DGB-Bundesvorstand, Martin Künkler, wenn er erklärt, dass „der an zwei Beispielen skizzierte Sinneswandel (zeigt), dass mit dem Bürgergeld das alte Hartz IV-System tatsächlich überwunden werden kann“ :

https://gegenblende.dgb.de/artikel/++co++92c88e0c-fd0a-11ec-afda-001a4a160123

 

Und auch die Partei DIE LINKE hat sich bisher bei dem notwendigen Widerstand gegen das Hartz IV-System wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert, denn ihre Positionen und Forderungen bleiben deutlich hinter dem zurück, was mit der Forderung „Weg mit Hartz IV!“, also mit einem Bruch mit dem Hartz-System, von einer Partei, die in ihrem Programm die Überwindung des kapitalistischen Systems auf ihre Fahnen geschrieben hat, zu erwarten wäre:

https://www.die-linke.de/themen/soziale-sicherheit/

 

Ich versuche im folgenden aufzuzeigen, dass bei dem Gesetzentwurf zum neuen „Bürgergeld“ von einer Überwindung von Hartz IV keine Rede sein kann. Auch wenn einige neue Regelungen zweifellos gewisse Verbesserungen enthalten, wie z.B. die Aussetzung der Wohnkosten- und Vermögensüberprüfung in den ersten zwei Jahren, die Erhöhung des Schonvermögens, der Wegfall der Angemessenheitsprüfung für das Kraftfahrzeug, die Einführung eines anrechnungsfreien monatlichen Weiterbildungsgeldes oder die sechsmonatige Schonfrist, bevor das Jobcenter im Rahmen des neuen Beratungs- und Vermittlungsprozesses wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht eine Sanktion (neu: „Leistungsminderung“) verhängen darf, bleiben dennoch die wesentlichen Eckpfeiler dieses seit Jahren kritisierten Repressionssystems aufrecht erhalten. Deshalb kann dieser Entwurf auch nicht ansatzweise dadurch „gerettet“ werden, wenn an einigen Stellschrauben noch „nachjustiert“ würde, wie es häufig in der Terminologie der Sozialverbände formuliert wird.

 

II.

Um das neue „Bürgergeld“ und die zu erwartende „Reform“ einer erforderlichen Kritik zu unterziehen, dürfte es notwendig sein, zunächst noch einmal in Erinnerung zu rufen, was eigentlich zum 01.01.2005 passiert ist, als „Hartz IV“ das Licht der Welt erblickte. Um nicht vor lauter Bäumen den Wald aus den Augen zu verlieren, versuche ich, mich auf die wesentlichen Eckdaten zu konzentrieren:

 

1. Eine wesentliche „Reformmaßnahme“ bestand in der Zusammenlegung der bisherigen Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe, wodurch ein großer Teil derjenigen, die bisher nach Bezug von Arbeitslosengeld die geringfügig geringere Arbeitslosenhilfe erhielten, auf Sozialhilfeniveau abstürzte. Dies war z.B. für eine Familie, die mit zwei minderjährigen Kindern mit einem Einkmmensverlust von ca. 800 € (!) verbunden. Während zuvor die Arbeitslosenhilfe durch anrechnungsfreies Kindergeld und Wohngeld aufgestockt werden konnte, fiel mit Hartz IV der Wohngeldanspruch vollständig weg und das Kindergeld wurde in voller Höhe auf die neue ALG II-Leistung angerechnet. Zur Erinnerung:  jeder Millionärs-Haushalt erhält das Kindergeld zusätzlich, während es bei den Ärmsten der Armen vom ohnehin völlig unzureichenden Regelbedarf abgezogen wird.

 

2. Damit war weiterhin verbunden, dass der Anspruch auf das Arbeitslosengeld (ALG I) nach 12 Monaten endete (für die über 50-jährigen gestaffelt etwas später) und damit hunterttausende von arbeitslosen Menschen anschließend gezwungen waren, Hartz IV mit den soeben geschilderten erheblichen Einkommensverlusten in Anspruch zu nehmen.

 

3. Mit der „Hartz IV-Reform“ wurde ein neues Zwei-Klassen-System in der Arbeitsförderung geschaffen. Während das bisherige Arbeitsförderungsgesetz (AFG) alle arbeitslosen Menschen gleichmäßig förderte (zumindest nach dem Wortlaut des Gesetzes), waren nunmehr für die Förderung der vom SGB III erfassten Arbeitslosen die Arbeitsagenturen und für den erheblich größeren Teil die neu eingeführten ARGEN (später umetikettiert in „Jobcenter“) zuständig, deren Existenz und Aufgabenbereich vom SGB II geregelt wurden.

 

4. Im Gegensatz zum SGB III wurde mit dem SGB II ein neues System des „Fordern und Fördern“ eingeführt, was für die betroffenen Menschen mit neuen Zumutbarkeitsregeln verbunden war, wonach sie unabhängig von ihrer Qualifikation jede ihnen von den Jobcenter angebotene Arbeit anzunehmen verpflichtet waren. Wer sich weigerte, wurde bedingungslos sanktioniert. Im Zusammenhang damit wurde eine besondere Stigmatisierungs-Ideologie ins Leben gerufen, wie sie u.a. in den sog. „multiplen Vermittlungshemmnissen“ bei den von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen Menschen zum Ausdruck kommt und von den Repräsentanten neoliberaler Politik immer wieder angeheizt wurde. So der bekannte Ausspruch des früheren FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle („Wer leistungslosen Wohlstand verspricht, fordert zu spätrömischer Dekadenz auf“) oder der ehemalige SPD-Arbeitsminister der Schröder-Regierung und spätere FDP-Wahlkampfberater, Wolfgang Clemens, der Hartz IV-Betroffene als „Parasiten“ und „Sozialschmarotzer“ diffamierte, ohne dass die „menschenrechtsbasierten“ Medien daran auch nur den geringsten Anstoß nahmen.

 

5. Schließlich wurde mit Hartz IV ein neues Repressionssystem in Gestalt von „Sanktionen“ eingeführt, wonach Leistungsberechtigte im schlimmsten Fall mit einer 100%igen Sanktion belegt werden konnten, also mit einem totalen Leistungsentzug konfrontiert waren. Um vor dem Verhungern zu „schützen“, gewährten die ARGEN gnädigerweise Lebensmittelgutscheine.

 

6. Dieses im neoliberalen Sinn verschlankte „Sozialsystem“ wurde von linken Sozialexperten von Anfang an als ein Massenverarmungsprogramm charakterisiert, dass mit dem wesentlichen Zweck verbunden war, eine nahezu gigantische Lohnsubventionierung einzuleiten. Dazu dienten die neu eingeführten Minijobs, die mit völlig unzureichenden Niedriglöhnen verbunden waren und einen großen Teil der betroffenen Menschen zwang, ihren Lohn durch Leistungen des Jobcenters aufzustocken.

 

III.

Vor diesem Hintergrund einige wesentliche Eckpfeiler einer linken Alternative:

 

1. Aufgrund der bisherigen Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, dass zunächst eine zentrale Forderung lauten muss:  Weg mit demZweiklassen-System in der Arbeitsförderung ! Alle von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen haben einen Anspruch auf ein einheitliches und auf Gleichberechtigung orientiertes Fördersystems.

 

2. Daraus folgt zwingend, dass die Aufspaltung von arbeitslosen Menschen in einen sog. Rechtskreis des SGB III und des SGB II bedingungslos abgeschafft werden muss. Dies ist zunächst einmal die entscheidende Revision des Repressionssystems Hartz IV. Die herrschende Klasse und die sie repräsentierende Bundesregierung hat allerdings keine Veranlassung, wie in dem „Bürgergeld“-Gesetzentwurf deutlich wird, diesen entscheidenden Paradigmenwechsel vorzunehmen. Und auch die Linkspartei und die Sozialverbände machen bisher leider einen großen Bogen um diese notwendige Revision, weil sie davon ausgehen, dass innerhalb des Hartz IV-Systems einige Korrekturen („Nachjustierung“) reichen würden.

 

3. Um den dramatischen Absturz aus dem ALG I-Bezug nach 12 Monaten in Hartz IV zu vermeiden, muss die weitere zwingende Alternative darin bestehen, dass der Bezug von Arbeitslosengeld unbefristet ist. Dies kostet natürlich eine Menge Geld, was zwar innerhalb weniger Tage für ein neues 100 Mrd. € teures Aufrüstungsprogramm wie selbstverständlich zur Verfügung steht, aber bei der Bekämpfung der dramatischen Arbeitslosigkeit wird wie gewohnt auf die neoliberale Kostenbremse getreten.

 

4. Weiterhin ist eine deutliche Anhebung des Regelsatzes natürlich für eine linke Reformalternative gewissermaßen alternativlos. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil bei einer Revision der Hartz IV-Systems, der nicht von ungefähr die von extremer Armut betroffenen Menschen am meisten ansprechen bzw. „erreichen“ dürfte. Eine Regelsatz-Erhöhung von bisher armutsfördernden 449 € auf 678 €, wie sie vom Paritätischen mit einer überzeugenden Studie gefordert wird, gehört selbstverständlich ebenfalls zum Kern eines menschenwürdigen Konzepts. Das geplante „Bürgergeld“ wird jedoch diesen notwendigen Schritt aus den erbärmlichen und menschenunwürdigen Armutsverhältnissen nicht ansatzweise vollziehen.

 

a)

Dazu ein notwendiger Exkurs: die geforderten und notwendigen 678 € enthalten keine Mietkosten, während die seit längerer Zeit von der Partei DIE LINKE geforderten 1.200 € für eine „bedarfsorientierte und repressionsfreie Mindestsicherung“ auch die Mietkosten beinhalten. Bisher erhebt keiner der Sozialverbände bzw. die zahlreichen linken Initiativen diese Forderung, unter anderem auch deshalb nicht, weil das Mietniveau in zahlreichen Städten erheblich voneinander abweicht, während ein Betrag von 1.200 € die Mietkosten gewissermaßen pauschaliert. So liegt die Obergrenze für die sog. Bruttokaltmiete in Duisburg bei 396 €, während sie in München bei 688 € (!) liegt (Bruttokaltmiete heißt: Grundmiete plus Betriebskosten, aber ohne Heizkosten). Es bedarf deshalb einer notwendigen Klärung innerhalb der Partei DIE LINKE, ob es sinnvoll ist, weiterhin einen Pauschbetrag zu fordern oder ob es nicht sinnvoller ist, für beide Bereiche, also den Regelbedarf einerseits und die Mietkosten andererseits, getrennte Forderungen aufzustellen.

 

b)

Angesichts der nahezu explosionsartigen Teuerungswelle, wovon insbesondere die auf Sozialleistungen angewiesenen Menschen überproportional betroffen sind, sollte insbesondere bei den Wohnkosten eine zwingende Forderung darin bestehen, die Strom- und Energiekosten aus der Regelsatzberechnung herauszunehmen, so dass die Jobcenter (und auch die Sozialämter) neben den zentralen Mietkosten auch die Energiekosten zu übernehmen haben.

 

5. Und es versteht sich nahezu von selbst, dass mit dem Sanktionssystem bedingungslos gebrochen werden muss und zwar im Rechtskreis des SGB II, aber auch im Rechtskreis des SGB III. Es hat in den letzten 17 Jahren (!) bei den davon betroffenen Menschen ein nahezu unbeschreibliches Elend erzeugt und die herrschende Politik hat trotz jahrelanger massiver Proteste gnadenlos daran festgehalten. Diese Repression war seit dem 1956 in Kraft getretenen AFG dem Arbeitsförderungs-System völlig fremd und fand in die Arbeitsförderung erst Eingang mit einer verschärften neoliberalen Ausrichtung der sozialen Sicherungssysteme. Dass sich eine SPD und in ihrem Schlepptau die Partei der Grünen sich dieser schwarzen Pädagogik verschrieben haben und damit von autokratischen Staaten nicht mehr unterscheidbar waren (und nach wie vor sind), gehört zum erbärmlichen und desaströsen Niedergang dieser beiden Parteien. Denn das Sanktionssystem soll auch im neuen Bürgergeld-Gesetz grundsätzlich beibehalten werden.

 

6. Es wäre schließlich erforderlich, dass die Partei DIE LINKE und auch die diversen Sozialverbände sich von der seit vielen Jahren genährten Hoffnung oder besser Illusion verabschieden würden, dass es reichen würde, wenn man die herrschende Klasse, also die Armutsverwalter, nur beständig mit neuen und aufgebesserten Forderungspapieren unter Druck setzen müsse, um das Hartz IV-System gewissermaßen zum Einsturz zu bringen. Es sollte sich aber eigentlich nach 17 Jahren Hartz IV-System und dem nahezu gnadenlosen Widerstand der herrschenden Klasse, sich von diesem Repressionssystem zu verabschieden, herumgesprochen haben, dass sich grundlegende gesellschaftliche Veränderungen nur durch Formen des zivilen Ungehorsams und breite Sozialproteste erreichen lassen, wie es der Sozialexperte Harald Thomé überzeugend fordert:  „Und an diejenigen, die es betrifft: damit was getan wird, muss Druck gemacht werden. Auf der Straße, vor Parteibüros und vor Energieversorgern, nur dann bewegt sich etwas.“